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Rechte Hand am linken Arm

Handchirurgie: Der Daumen in den Tiefkühlerbsen

Finger gequetscht! Daumen ab! Das ist der Albtraum jedes Handwerkers. Wissen Sie, wie abgetrennte Extremitäten nach einem Unfall gelagert werden müssen? Wie der Handchirurg Heinz-Herbert Homann diese und andere Fragen beantwortet, ist überraschend.

Professor Heinz-Herbert Homann ist Direktor der Klinik für Plastische und Handchirurgie, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie in Wuppertal. Im handwerk.com-Interview gibt er praktische Tipps – und verdeutlicht, dass selbst die bizarrsten Fälle aus amerikanischen Arztserien nah an an der Realität sein können.

Herr Homann, wie hoch ist der Anteil der Handwerker unter Ihren Patienten?
Homann: Sehr hoch, keine Frage. Das lässt sich auch aus der Statistik ableiten. Bei mehr als 40 Prozent aller Berufsunfälle sind die Hand oder das Handgelenk betroffen. Häufig sind das natürlich Lappalien, leicht Schnittverletzungen. Und dann gibt es die schwerwiegenden Verletzungen.

Der Verlust des Daumens gilt als besonders schwerwiegend. Warum?
Homann: Der Daumen ist der einzige Finger, der in der Lage ist, den anderen Fingern gegenübergestellt zu werden. Ohne diese sogenannte Opposition wäre der Mensch nicht da, wo er heute ist. Nur dadurch sind wir geschickt, nur dadurch können wir Dinge zielgerichtet greifen, festhalten und den Griff fein dosieren.

Auch wenn das gemein klingt, heißt das also, dass der Verlust eines Mittelfingers vergleichsweise leicht zu verkraften ist?
Homann: Das klingt fies, stimmt aber. Der Zeigefinger kann den Mittelfinger weitgehend ersetzen. Den Daumen können Sie nicht ersetzen. Das wissen auch die Berufsgenossenschaften. Kurz gesagt: Für einen verlorenen Mittelfinger bekommen Sie keine Rente. Für den Verlust eines Daumens schon.

Was der Lagerung in Tiefkühlerbsen nach einem Unfall eindeutig vorzuziehen ist, lesen Sie auf Seite 2.

Trotz "Flexverletzung" alle Zeit der Welt

Was macht eigentlich ein Handwerker mit den abgeschnitten Fingern oder der abgetrennten Hand seines verunfallten Kollegen?
Homann: Die Profis aus dem Rettungswagen haben alle möglichen Hilfsmittel. Was der medizinische Laie tun muss: Das Amputat nehmen und in ein sauberes Tuch wickeln. Alles andere sollte man den Leuten überlassen, die etwas davon verstehen.

Nun ist doch die Ansicht weit verbreitet, dass die Körperteile gekühlt werden müssen.
Homann: Ich habe da schon alles erlebt. Daumen im Vanille-Eis, Zeigefinger in gefrorenen Erbsen von bofrost. Das muss nicht sein. Gerade dann, wenn es um die Finger geht, hat man alle Zeit der Welt, da kommt es nicht auf die Minute an. Wenn sie sich das Bein abtrennen, haben sie viel Muskulatur. Wenn die vier Stunden nicht durchblutet wird, nimmt sie Schäden, die irreparabel sind. Aber beim Finger haben sie keinen einzigen Muskel. Alle Strukturen, die sie beim Finger haben, können sie acht oder neun Stunden erhalten. Haut, Sehnen, Knochen - mehr ist da nicht.

Was sind denn die Standardfälle, die Handwerkern besonders oft passieren?
Homann: Quetschungen sind häufig, die Hände geraten zwischen Werkstücke und Maschinen. Viel passiert auch beim Beladen von Transportern, Material fällt auf die Hand, beim Tragen werden Hände angestoßen. Schnell arbeitende Maschinen, etwa in Tischlereien, sind natürlich auch unfallträchtig. Genau wie Schnitte durch Sägen, die Flexverletzungen.

Was einem 70-jährigen Tischler nach 40 unfallfreien Jahren passiert ist, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Vier Finger bei "Bastelarbeiten" verloren

Man liest ja immer mal wieder darüber, dass sich Handwerker ganze Finger oder Gliedmaßen abtrennen.
Homann: Das ist viel, viel seltener geworden, weil die Arbeitssschutzbedingungen und die entsprechenden Bestimmungen deutlich besser geworden sind. Und es gibt weniger Schwerindustrie. Als ich angefangen habe in meinem Beruf, im nördlichen Ruhrgebiet, hatten wir aus den umliegenden Zechen jeden Tag irgendwelche Verletzungen. Wenn Steine fallen, schützt der Helm den Kopf, aber die Hand hat keinen Schutz.

Können Sie einen grundsätzlichen Fehler benennen, der zu Handverletzungen führt?
Homann: Ist das nicht naheliegend? Bei Tätigkeiten, bei der eine Gefährdung erwartbar ist, keine Handschuhe tragen - das nenne ich einen grundsätzlichen Fehler. Das klingt banal, ist aber Realität, denn oft sagen die Verletzten hinterher, dass ihre Handschuhe nicht richtig gepasst haben. Man gibt für viele Dinge Geld aus. Und ich sage Ihnen: Manchmal kann es unheimlich günstig sein, wenn Arbeitnehmer vier Euro aus dem eigenen Geldbeutel in eigene Handschuhe investieren. Das sind vier Euro für ein Leben mit hoher Lebensqualität.

Passiert es noch oft, dass Maschinen manipuliert werden?
Homann: Ja. Für eine höhere Effektivität. Es ist ja immer eine spannende Frage, wie es zu einem Unfall kommt. Das einfachste Beispiel ist, dass an einer Tischkreissäge die Schutzvorrichtung entfernt wird. Oder bei der Flex. Der Schutz nervt. Genau wie die Lichtschrankensysteme, die Maschinen automatisch ausschalten. Wenn man so etwas macht, dann passiert’s halt irgendwann. Ich hatte mal den Fall eines 70-jährigen Tischlermeisters. Der Mann war 40 Jahre lang selbstständig gewesen, es war nie etwas passiert. Dann hat der Mann mit Anfang 70 für sein Enkelkind Zuhause eine Krippe gebaut – und sich vier Langfinger abgesägt. Mit 70 bei, um es zugespitzt zu sagen, Bastelarbeiten für sein Enkelkind. Und an Maschinen, die er sein Leben lang bedient hat. So etwas passiert. Und da war nicht einmal etwas manipuliert. Bei Unfällen kommen oft viele Dinge zusammen. Man hat einen schlechten Tag, ist unkonzentriert, man hat’s eilig - dann passiert so etwas.

Wie selbst der bizarrste Fall aus einer amerikanischen Fersehserie zur Realität wird, lesen Sie auf Seite 4.

Rechte Hand am linken Arm

Finger ab, das ist der blanke Horror - wie schmerzhaft ist so ein Unfall?
Homann: Zunächst nicht sehr schmerzhaft, durch die Ausschüttung der Stresshormone werden die Schmerzen gut unterdrückt. Aber nicht lange. Die echten Schmerzen kommen meistens dann, wenn der Notarzt oder der Krankenwagen den Unfallort erreicht hat. Die Schmerzen sind auch nicht das eigentliche Problem. Das Problem sind die Patientenschicksale. Ich werde nie den Schülerpraktikanten vergessen, der sich am ersten Tag seines Praktikums die Mittelhand, also die Verbindung zwischen dem Handgelenk und den Fingern, abgetrennt hat. Sehr kompliziert, schwierig zu operieren. Das hat damals glücklicherweise geklappt. Seine Handfunktion war dennoch beeinträchtigt – und somit auch seine weitere Entwicklung.

In einer amerikanischen Krankenhausserie nehmen die Ärzte in einer Folge den sogenannten „Überkreuztransfer“ vor. Nach einem Unfall wird die linke Hand an den rechten Arm des Patienten genäht. Gibt es so etwas tatsächlich?
Homann (lächelnd): Das habe ich auch schon gemacht. Wollen Sie das sehen? (Er steht auf, geht zu einem Fernseher in der Ecke seines Büros, sucht kurz und öffnet dann eine Datei mit einer Videoaufzeichnung). Sie sehen gleich einen Patienten, der zwischen eine Eisenbahn und den Bahnsteig gekommen ist. Er hat sich beide Hände und die Arme so verletzt, dass nur noch eine Hand zu gebrauchen war – aber der dazugehörige Arm nicht. Die Hand des anderen Arms war wiederum völlig zerstört. Das ist eine Geschichte, die man vielleicht einmal in einem chirurgischen Leben erlebt. Fragen sie den Mann heute, ob er sich darüber freut, dass er eine linke Hand hat, aber natürlich überall begafft wird, weil das ungewöhnlich aussieht. Klar, es ist froh, er ist mit der Hand immer geschickter geworden.

Er wird wahrscheinlich froh sein, dass er sich ohne Hilfe die Hose zuknöpfen kann.
Homann: Es geht wirklich um so grundlegende Funktionen, das stimmt. Das zweite ist, dass er jetzt in der Lage ist, die elektrische Prothese an der anderen Seite anzuziehen.


Verstehen Sie sich eigentlich als Handwerker?
Homann: Das muss man. Der Chirurg, der sich nicht als Handwerker versteht, hat nichts am OP-Tisch verloren.

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